Die Degeneration der Nation
Der Tag des Herrn
Es klang nicht nach einer gewöhnlichen Störung. Mir wurde übel. Mein ganzes Privatleben war in der E-Mail. Alles, was ich je geschrieben oder getan hatte, wenn es nicht im Netz veröffentlicht wurde, war in der Cloud streng geheim gespeichert, alles. All meine Liebeskorrespondenzen, und der lange Briefwechsel mit ihr, mit ihr!
Von: Ein getrennter Partner
Weh denen, die des Herrn Tag begehren! Was soll er euch? Denn des Herrn Tag ist Finsternis und nicht Licht (Quelle)
Eines Tages wachte ich auf und das Internet war verschwunden. Ich trennte und verband, trennte und verband wieder, aber es funktionierte nicht. Es war keine gewöhnliche Empfangsstörung, vielleicht lag es an der Verbindung. Die Hotline war besetzt mit einer Sprachnachricht: Große weltweite Störung, wir arbeiten an der Behebung. Ich hatte eine Kindheitserinnerung an eine große alte landesweite Störung, aber weltweit? Wer arbeitet an der Behebung einer weltweiten Störung? Klang wie eine Lüge.

Es gab keine Nachrichten, weil ich schon lange kein anderes Medium mehr hatte. Und es klang nicht nach einer gewöhnlichen Störung. Mir wurde übel. Mein ganzes Privatleben war in der E-Mail. Alles, was ich je geschrieben oder getan hatte, wenn es nicht im Netz veröffentlicht wurde, war in der Cloud streng geheim gespeichert, alles. All meine Liebeskorrespondenzen, und der lange Briefwechsel mit ihr, mit ihr! Von der ich keine einzige Information in der realen Welt habe. Wie verletzlich alles eigentlich ist. Und wie dumm ich bin. Ich hatte keine Sicherungskopie gemacht, und da ich damals noch dachte, alles würde sich regeln, versprach ich, daraus zu lernen.

Ich hatte nichts mehr zu Hause zu tun. Ich musste auf die Straße gehen, vielleicht litten auch andere Menschen unter dieser beispiellosen Störung. Und tatsächlich war die Straße voller Menschen. Ich wusste nie, dass es so viele Menschen in dieser Stadt gibt. Jemand schrie, aber die meisten wirkten verloren, wir bewegten uns instinktiv zum Stadtzentrum, vielleicht könnte man dort verstehen, was passiert war.

Ein alter Mann behauptete, in seinem alten Radio hätten sie gesagt, das Internet sei wegen unserer Sünden verschwunden. Er versuchte, auf der Straße zu predigen, es klang nicht glaubwürdig, aber in Ermangelung einer anderen Quelle betrat ich sein enges Haus, wo viele Menschen still einem Radio zuhörten, das wie ein glanzloses Sammlerstück aussah, aus grauem, abblätterndem Plastik, aber man konnte zwischen dem Rauschen kaum etwas hören. Da war ein religiöser Prediger, vermutlich von einem der religiösen Sender, der sagte, die Tage der Finsternis seien gekommen, die Tage der Finsternis seien da, die Server seien in höherem Licht verschwunden und hätten die Sünden der Menschen zurückgelassen. Er klang regelrecht erfreut über die Tage der Finsternis, mit der Genugtuung eines 'Ich habe es euch ja gesagt'.

Ein Fremder auf der Straße sagte zu mir, als wäre ich ein alter Freund: Die Computer haben gegen die Menschen rebelliert. Ich sagte: Was? Und er sagte: Sie haben alles genommen. Ich wiederholte: Was? Und er sagte: Sie wussten alles. Und ging weg, während er murmelte, nachdem er in mir nicht den Gesprächspartner gefunden hatte, den er wollte: Ich nehme an, wir sahen ziemlich erbärmlich aus. Ein Mann, der klüger aussah als die anderen, schrie, im völligen Gegensatz zu seiner Erscheinung: Hat noch jemand Bücher? Ich dachte: Wer hat heute noch Bücher, wo doch alles im Netz ist. Ich kenne niemanden mit so alter Technologie. Ein anderer Mann, bei dem unklar war, was er im Netz hatte, und ich wagte auch nicht zu fragen, jammerte in der Ecke, als wären mindestens alle seine Kinder gestorben: Alles ist verloren, alles ist weg.

Ich schaute zum Himmel, der sich als einziges nicht verändert hatte, und aus der Bestürzung wuchs plötzlich ein anderes Gefühl in mir, wie bei einem Kind, das aus der Schule geflohen ist, das Gefühl eines unerwarteten freien Tages, denn es gab heute keine Arbeit. Die Menschenmassen draußen erzeugten eine Atmosphäre von Fest oder Katastrophe, oder beidem. Zwischen den verwirrten, weinenden und verlorenen Gesichtern auf der Straße und dem allgemeinen Gefühl der Panik, trafen meine Augen plötzlich die einer Frau, und langsam, völlig unangemessen für die große Katastrophe, konnten wir nicht anders als zu lächeln.
Kultur und Literatur